Fehlanwendungen: Herausforderungen und Strategien für Hersteller von Medizinprodukten

03.12.2024
Textbild "Misuse und Off-label Use - Herausforderungen und Strategien für Medizinproduktehersteller" von Metecon GmbH
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Für Hersteller von Medizinprodukten steht die Sicherheit ihrer Produkte stets im Mittelpunkt. Um potenzielle Risiken frühzeitig zu erkennen und negative Auswirkungen zu minimieren, müssen Medizinproduktehersteller die Anwendung ihrer Produkte kontinuierlich überwachen und dabei auch Fehlanwendungen ihrer Produkte identifizieren.

Diese Verpflichtung ist nicht nur für die Patientensicherheit entscheidend, sondern auch für die Einhaltung der regulatorischen Anforderungen der Medical Device Regulation (Verordnung (EU) 2017/745 (MDR)) an die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (Post-Market Clinical Follow-up / PMCF).

In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf die Herausforderungen, die mit der Erkennung von Fehlanwendungen verbunden sind und zeigen auf, wie Ihnen Daten aus der Post-Market Surveillance (PMS) dabei helfen können, diese Anforderungen zu erfüllen.

Beschreibung der Fehlanwendungen von Medizinprodukten

Die MDR stellt hohe Anforderungen an die Überwachung nach dem Inverkehrbringen von Medizinprodukten. Eine zentrale Anforderung im Rahmen des Post-Market Clinical Follow-up (PMCF) ist es, eine mögliche systematisch fehlerhafte ("systematic misuse") oder zulassungsüberschreitende ("off-label use") Verwendung des Produktes festzustellen, damit überprüft werden kann, ob seine Zweckbestimmung angemessen ist. Systematische Fehlanwendungen treten wiederholt auf und sind damit keine Einzelfälle, sondern weisen eine gewisse Regelmäßigkeit auf, die auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden kann.

Doch obwohl die beiden Begrifflichkeiten "misuse" und "off-label use" im regulatorischen Kontext eine wichtige Rolle spielen, sind sie in der MDR selbst nicht eindeutig definiert. Auch das Positionspapier der European Association of Medical Devices Notified Bodies (Team-NB): "Data generated from 'Off-Label' Use of a device under the EU Medical Device Regulation 2017/745" unterscheidet nicht eindeutig zwischen den beiden Begriffen.

Jedoch taucht der Begriff "misuse" im Zusammenhang mit dem Risikomanagementsystem im Sinne einer "vernünftigerweise vorhersehbaren Fehlanwendung“ ("reasonably foreseeable misuse") auf (Annex I – Chapter I General Requirements) und bezieht sich damit auf die fehlerhafte Anwendung eines Produktes, die nicht den Anweisungen des Herstellers entspricht. In der EN ISO 14971:2019+A11:2021 (Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte) wird der Begriff "reasonably foreseeable misuse" aufgegriffen und als vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendungen übersetzt. Diese wird definiert als "Gebrauch eines Produktes oder eines Systems in einer Weise, die vom Hersteller nicht vorgesehen war, aber aus leicht vorhersehbarem menschlichen Verhalten resultieren kann".

Ein Augenmerk ist dabei auf die zweite Anmerkung zum Begriff zu legen, dass hier sowohl absichtliche als auch unabsichtliche Fehlanwendungen eingeschlossen werden. Sowohl absichtlicher "misuse" (z.B. bewusste Nichtbeachtung der Gebrauchsanweisung) als auch unabsichtlicher "misuse" (z.B. Missverständnisse in der Gebrauchsanweisung) schließen jeweils auch zulassungsüberschreitende Verwendungen und damit "off-label use" mit ein. Zulassungsüberschreitende Anwendungen im Sinne von "off-label use" können daher als Teilmenge von "misuses" verstanden werden. Im Folgenden wird daher der Schwerpunkt auf den absichtlichen und unabsichtlichen Fehlanwendungen liegen, die neben dem "misuse" auch den "off-label use" umfassen können.

Hersteller müssen über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg aktiv werden, um Fehlanwendungen ihrer Produkte zu identifizieren. Wie in der ISO/TR 24971:2020-06 (Medical devices — Guidance on the application of ISO 14971), Kapitel 5.2 beschrieben, ist dies beispielsweise über den Usability-Prozess möglich. Insbesondere unabsichtliche Fehlanwendungen sollten Bestandteil der Risikoanalyse sein und auch in der Usability-Bewertung aufgegriffen werden. Der Zusammenhang zwischen Usability und Risiko wird in der Usability-Norm IEC 62366-1 verdeutlicht. Bei der Identifikation von gefahrenrelevanten Anwendungsszenarien sollten Hersteller nicht nur die vom Anwender beabsichtigt ausgeführten Aufgaben untersuchen, sondern auch solche, die nicht beabsichtigt sind, jedoch vorhersehbar auftreten könnten. Diese vorausschauende Betrachtung hilft, Fehlanwendungen zu minimieren und die Sicherheit zu erhöhen. Aber auch nach dem Inverkehrbringen besteht die Möglichkeit, Fehlanwendungen mit Hilfe von PMS zu erkennen.

Post-Market Surveillance als wichtige Möglichkeit zur Erkennung von Fehlanwendungen

Wie in Artikel 83 (2) der MDR beschrieben, dient das PMS-System der aktiven und systematischen Sammlung einschlägiger Daten über die Qualität, Leistung und Sicherheit eines Produktes während der gesamten Lebensdauer. Dies schließt auch mögliche Fehlanwendungen mit ein. Um diese zu identifizieren, können verschiedene Methoden zur Erfassung und Analyse von PMS-Daten angewendet werden.

Einführung in PMS und PMCF

Post-Market Surveillance (PMS) und Post-Market Clinical Follow-up (PMCF) sind zentrale Instrumente zur kontinuierlichen Überwachung und Sicherstellung der Sicherheit und Wirksamkeit von Medizinprodukten nach deren Markteinführung und damit auch zur Erfassung und Analyse von Daten zu Fehlanwendungen.

PMCF als Teil der PMS konzentriert sich auf die klinischen Daten der Überwachung nach dem Inverkehrbringen. Anhand der Sammlung von klinischen Daten ist es ein erklärtes Ziel des PMCF (siehe Annex XIV Teil B der MDR), systematische fehlerhafte oder zulassungsüberschreitende Verwendungen zu identifizieren.

Datenquellen für PMS zur Identifizierung von Fehlanwendungen

Die Effektivität von PMS hängt maßgeblich von der Qualität und Vielfalt der genutzten Datenquellen ab. Um somit auch Fehlanwendungen zu erkennen, sollten verschiedene Datenquellen sowohl aus PMCF als auch PMS herangezogen werden. Es ist daher wichtig, klar zu unterscheiden, wie diese verschiedenen Datensätze erfasst und genutzt werden, um die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen.

Reaktive Daten sind entscheidend für die Identifizierung von Fehlanwendungen. Diese Daten umfassen Informationen über unerwünschte Ereignisse, Kundenbeschwerden und technische Fehler, die Indikatoren für Fehlanwendungen sein können. Ein Anstieg der Reklamationszahlen, insbesondere wenn sich die Beschwerden auf Anwendungsprobleme beziehen, die nicht in der Gebrauchsanweisung behandelt werden, kann ein Hinweis darauf sein. Aber auch eine Häufung von Rückmeldungen, z. B. von einem spezifischen Kunden, sind ein Anhaltspunkt, dass evtl. eine Fehlanwendung vorliegen könnte. Durch die Analyse und Kategorisierung dieser Daten können Hersteller Muster erkennen und Maßnahmen zur Risikominderung ergreifen. Eine regelmäßige Auswertung dieser Daten hilft, die Sicherheit des Produktes zu gewährleisten und potenzielle Missbräuche frühzeitig zu identifizieren.

Marktfeedback im Sinne einer direkten Rückmeldung der Anwender (z. B. über den Vertrieb) kann ebenfalls wertvolle Einblicke in die tatsächliche Nutzung eines Produktes geben. Durch diesen direkten Austausch können auch Szenarien erfasst werden, die nicht in formellen Reklamationen oder Beschwerden auftauchen, wie zum Beispiel unkonventionelle Anwendungen im Sinne einer bewussten Fehlanwendung. Darüber hinaus bietet das Marktfeedback die Möglichkeit, detailliertere und kontextbezogene Informationen zu erhalten, die gezielter zur Produktverbesserung und zur Erkennung von Fehlanwendungen beitragen. Hier kann der Hersteller zudem proaktiv Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass das Produkt wie vorgesehen verwendet wird, anstatt erst zu reagieren, wenn formelle Beschwerden eingehen.

PMCF-Aktivitäten im Sinne von PMCF-Studien liefern zwar wertvolle und vor allem evidenzbasierte Erkenntnisse über die Sicherheit und Wirksamkeit eines Produktes, sind aber weniger geeignet, um Fehlanwendungen zu erkennen. Dies liegt daran, dass PMCF-Studien einem festen Studienprotokoll folgen und die Anwendung des Produktes innerhalb klar definierter Rahmenbedingungen vorschreiben, so dass Anwendungsfälle außerhalb des zugelassenen Verwendungszwecks hier rechtlich ausgeschlossen sind. Darüber hinaus ist zu beachten, dass eine PMCF-Studie ausschließlich der Überwachung der tatsächlichen Nutzung des Produktes innerhalb seines zugelassenen Verwendungszwecks dient und nicht der Sammlung von Daten zur Erweiterung der Indikation des Produktes. Gemäß Artikel 74 (2) MDR ist stattdessen eine klinische Prüfung erforderlich, wenn ein CE-gekennzeichnetes Produkt außerhalb seiner Zweckbestimmung verwendet werden soll. PMCF-Studien dienen damit der Überwachung der Verwendung im realen Umfeld, jedoch ausschließlich innerhalb des genehmigten Anwendungsbereichs.

Im Gegensatz dazu bieten proaktive User Surveys als PMCF-Datensatz auch die Möglichkeit, durch gezielte Fragestellungen spezifische Informationen zu Fehlanwendungen zu gewinnen. Diese Erhebungen sind besonders nützlich, um festzustellen, ob z. B. eine systematische Fehlanwendung vorliegt. Außerdem kann ein User Survey unterstützen, wenn bereits ein Muster festgestellt wurde und weitere Details zur Verbesserung der Produktsicherheit erforderlich sind. Entscheidend ist hierbei die Konzeption dieses User Surveys, um die gewünschten Ziele der Befragung zu erreichen. (Wir bei Metecon unterstützen Sie gerne bei dieser Strategiefindung!)

Ein weiterer wertvoller Ansatz zur Identifizierung von Fehlanwendungen ist neben der Literaturrecherche zu eigenen Produkten die Untersuchung von Daten zu ähnlichen Produkten auf dem Markt. Durch FSCA- und Literaturrecherchen lassen sich wertvolle Erkenntnisse gewinnen, auch wenn diese Informationen nicht zwangsläufig Fehlanwendungen des Wettbewerbsprodukts darstellen. Aufgrund der Ähnlichkeit der Produkte kann jedoch ein Eindruck davon gewonnen werden, welche Anwendungen möglicherweise für das eigene Produkt relevant sein könnten und somit auch eine zulassungsüberschreitende Verwendung oder Fehlanwendung des eigenen Produktes darstellen würden. Auf diese Weise können Sie als Hersteller frühzeitig auf mögliche Risiken reagieren und die eigene Risikoanalyse entsprechend anpassen.

Mit Hilfe dieser Datenquellen können Hersteller nicht nur Fehlanwendungen identifizieren, sondern auch die damit verbundenen Risiken besser einschätzen. Aber wie geht man damit um, wenn man solche Anwendungen identifiziert hat?

Maßnahmen zur Risikominimierung

Hersteller müssen gemäß EN ISO 14971:2019+A11:2021 für vorhersehbare Fehlanwendungen geeignete Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten. Aber auch Fehlanwendungen, die nicht als "vernünftigerweise vorhersehbar" eingestuft werden, sollten sorgfältig dokumentiert und bewertet werden. Die Tatsache, dass eine Fehlanwendung derzeit als unvorhersehbar eingestuft wird, bedeutet nicht, dass dies immer der Fall sein wird. Wenn ähnliche Szenarien häufiger auftreten, könnte sich ein Muster entwickeln, das die Fehlanwendung in Zukunft als vorhersehbar erscheinen lässt.

Die möglichen Maßnahmen sind vielfältig und hängen vom Produkt, dem aktuellen Status im Produktlebenszyklus und dem vorliegenden Szenario ab. Wir haben Ihnen hier eine Auswahl von Maßnahmen zusammengestellt, mit denen vernünftigerweise vorhersehbare Fehlanwendungen nach dem Inverkehrbringen minimiert werden können:
  • Produktänderungen: Durch gezielte Anpassungen oder Verbesserungen am Produktdesign kann das Risiko von Fehlanwendungen unter Umständen erheblich reduziert werden. Dies könnte beispielsweise durch mechanische oder softwarebasierte Änderungen geschehen, die den Gebrauch des Produkts außerhalb der zugelassenen Indikationen erschweren oder unmöglich machen.
  • Schulungen: Die Bereitstellung spezialisierter Schulungen für Anwender kann ein entscheidender Faktor sein, um die korrekte Anwendung des Produkts zu fördern. Durch Schulungen werden Anwender umfassend über die zulässigen Anwendungsbereiche im Rahmen der Zweckbestimmung informiert und auf mögliche Risiken einer unsachgemäßen Nutzung hingewiesen.
  • Überarbeitung der Gebrauchsanweisung: Eine präzise und umfassende Formulierung der Gebrauchsanweisung kann Missverständnissen und Fehlanwendungen bereits vor dem Inverkehrbringen vorbeugen. Durch weitere Überarbeitungen und ggf. Erweiterung der Gebrauchsanweisung nach dem Inverkehrbringen kann insbesondere das Risiko einer unbewussten Fehlanwendung reduziert werden. Bitte beachten Sie hierbei, dass dies ggf. eine Sicherheitskorrekturmaßnahme im Feld (FSCA) erforderlich machen kann.
  • Proaktive Information: Die Veröffentlichung gezielter formeller Informationen (z.B. durch die Rechtsabteilung oder das Produktmanagement) dient dazu, Anwender frühzeitig über mögliche Risiken im Zusammenhang mit Fehlanwendungen zu informieren. Diese proaktive Kommunikation kann potenzielle Gefahren hervorheben und das Bewusstsein für die korrekte Anwendung des Produkts stärken. Sie sollte jedoch eher als ergänzende Strategie zur Sensibilisierung der Anwender und nichtals primäre Risikoreduktionsmaßnahme in der Risikoanalyse betrachtet werden.

Mit diesen Maßnahmen können Hersteller nicht nur zur Sicherheit und Wirksamkeit ihrer Produkte beitragen, sondern auch sicherstellen, dass diese den regulatorischen Vorgaben der MDR entsprechen.

Fazit

Auch wenn die MDR Fehlanwendungen nicht direkt definiert, stehen Hersteller von Medizinprodukten vor der Herausforderung, diese im Rahmen von PMS und PMCF zu erkennen. PMS und PMCF-Aktivitäten bieten dabei unverzichtbare Werkzeuge, um sowohl absichtliche als auch unabsichtliche Fehlanwendungen frühzeitig zu identifizieren und die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Ein gut strukturiertes PMS-System ist daher entscheidend, um nicht nur die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen, sondern auch die Patientensicherheit nachhaltig zu verbessern.

Hat Ihr PMS-System noch Lücken bei der Erkennung von Fehlanwendungen? Oder haben Sie bereits Fälle identifiziert und sind sich unsicher, wie Sie am besten damit umgehen sollen? Wir helfen Ihnen gerne dabei, Ihr PMS-System optimal auszurichten! Darüber hinaus unterstützen wir Sie auch gerne in den Bereichen Risikomanagement und Usability, damit Sie für alle Aspekte rund um das Thema Fehlanwendungen bestens gerüstet sind.
Claudia Möller
Claudia Möller
Regulatory Affairs
Post-Market Surveillance Expert
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